An einem langen Vormittag in Corona-Zeiten (Skizze)

Von Heike F. M. Neumann

Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich auf die größte von drei Buchen, die in Reihe stehen und das untere Nachbargrundstück begrenzen. Die Buche, die im Frühling, als ob sie den Temperaturen nicht traue, immer als Letzte Blätter treibt und im Herbst, als ob sie Hoffnung geschöpft hätte, dass alles so bleiben könnte, ihre Blätter festhält. Jetzt, Anfang Dezember, steht sie kahl. Die unteren schwarzen Äste scheinen hilflos in den grauen Himmel zu greifen, während die oberen sich recken und verzweigen und eine imposante Krone bilden. Sehe ich die Dinge in Corona-Zeiten anders? Genauer? Oder schmerzlicher? Projiziere ich meine Gefühle auf die Dinge?
Pünktlich Anfang März lag mein Lyrikband „Friedenswaisen“ gedruckt vor. Große Freude. Aber die Lesung, die Premiere, musste wegen Corona verschoben werden. „Wir werden deine Lesung in den Herbst verschieben“, sagte die Leiterin unserer Kreisbibliothek. „Na ja“, dachte ich, „es ist halt so, und verschoben ist ja nicht aufgehoben. Vielleicht ist der Spuk mit Corona schneller beendet.“
Was wird sonst mit dem runden Geburtstag meines Bruders Ende April? Unserer Goldenen Hochzeit im Mai? Wir konnten uns als Studenten keine Hochzeitsreise leisten. Dieses Mal hatten wir auf eine Reise nach Spanien gespart. Andalusien. Eine Städtereise: Malaga, Sevilla, Córdoba, Granada …
Was wird mit unseren Enkeln, der älteste schreibt seine Master-Arbeit und hat umfangreiche Experimente in der Uni durchzuführen, der mittlere Enkel muss seine Bachelorarbeit abgeben, der jüngste Enkel jeden Tag in das Gymnasium nach Gotha mit dem Bus. Wird die Tochter ins Homeoffice geschickt? Behält der Schwiegersohn seine Arbeit? Um die Betriebe, die Zulieferer für die großen Autohersteller sind, soll es ja nicht so gutstehen.
Aber die wichtigste Frage: Bleiben unsere Familien gesund?
Von links schiebt sich ein rotes Band in das Grau des Himmels. Hinter die Äste der Buche. In die Äste hinein. Es sieht beinah aus, als ob sie brennen. Oben und unten brennen. Aber nein, es ist Morgen, mein Mann und ich sitzen am Tisch und frühstücken, Brot, Brötchen, selbst gemachte Marmelade vom letzten Jahr. Eine Kanne Kaffee. Aber: Morgenrot tut selten gut – der alte Spruch …

Die Sätze am Telefon, die uns erreichten, fallen mir ein: „Was wollt ihr, wir haben ein Schaltjahr.“ „Von China! Aber dort tragen sie anstandslos Mundschutz.“ „Du hast doch Blutgruppe B, diese Menschen sollen widerstandsfähiger gegen Krankheiten sein.“ „Geht um Gottes willen nicht einkaufen“, sagte die Tochter, „überlegt, was ihr braucht, ich komme Donnerstag, spätestens Sonnabend und bringe euch alles. Habt ihr gehört! Geld könnt ihr mir hinterher geben!“

Die Zahlen … Deutschland scheint zunächst verhältnismäßig gut weggekommen zu sein, aber nichts bleibt, wie es ist – ein anderer Spruch. Was heißt das nun? Das will noch gar nichts heißen.

Ich schaue auf die Uhr. 8.00 Uhr. Nachrichten. Im Gespräch: Corona-Massentest für Schulen. Impfstoff: EU- und USA-Zulassung. Über 2300 Menschen mit Covid-19 infiziert, Zahl der Toten stieg auf 432. Zwei Lotto-Manager freigestellt – Vetternwirtschaft und Fragen bei der Vergabe von Fördermitteln. Forderung: Mobilfunk für Autobahnen … Wetter: Dresden 1 Grad, Gera 0, Halle 1, Magdeburg 2, Schmücke 3. Regen mit Glätte. Morgen Schneeschauer. Öl auf der Fahrbahn, Feuerwehreinsatz. Stau Richtung Bad Berka.
Über uns leuchtet schon der Herrnhuter Stern, am Fenster der Schwibbogen, in der Mitte des Tisches eine dicke Kerze. Auf der Etagere liegen verschiedene Sorten Nüsse, Äpfel, Apfelsinen. Ich denke daran, dass ich gleich schreiben werde, wenn der Tisch abgeräumt ist, schreibe ich. „Juri der Spinner“, zur Abwechslung weiter im Text für ein Kinderbuch. Von Juri, dem kleinen Mäuserich, der als Spinner verschrien ist und Tiere retten will, wie fängt er das an?
Das rote Band des Himmels hat sich in ein Gelb gewandelt. Sonnenaufgang. Der Laptop steht bereit, der Laptop meines Mannes, mein Laptop ist in Reparatur. Ermahnung: „Schreib langsam und immer speichern … Und vergiss nicht, deine Sachen stehen unter D Privat, Heike …“

Ein Vogel setzt sich auf einen der unteren Zweige der Buche. Könnte es sein, dass er mich beobachtet? So viele Lichter, und ich mache noch das Deckenlicht an. So viel Licht brauche ich. Zu Hause sein. Wie oft hatte ich mir das gewünscht: zu Hause sein und schreiben können, vor der Wende, nach der Wende. Nie hatte ich genügend Zeit, dranzubleiben, immer erst kamen Studium, Beruf und Familie, wochentags, am Wochenende. Und die Gegend erkunden, später andere Länder kennenlernen: Frankreich, Kreta, Zypern, Venedig, Niederlande, Ägypten, Schweiz, Luxemburg, China, Sibirien, Skandinavien, Portugal. Und die Betreuung meiner kranken Mutter. „Das musst du machen“, sagte mein Bruder, „du kannst hier nicht weg.“ Meine Familie. Die Familie der Tochter: „Könnt ihr mal Justus behalten?“ „Aber natürlich!“ Schön, dass wir gefragt werden. Der Verein: Es geht um Initiativen. Historische Texte und Reden übers Wochenende. Forschung. „Vergiss den Hund nicht über deiner Arbeit, über den Mittag musst du nach Hause kommen und den Hund rauslassen!“, sagte mein Mann. Arbeiten. Familie. Schreiben, Essen und Trinken waren Nebensache.
Ein Glück, dass mein Mann jetzt da ist, einer, der backen und kochen kann, einer, der sich neben dem Beruf um den Garten kümmert, der nach den Türschlössern guckt, den Fernseher einrichtet, der einen Nagel in die Wand schlagen kann, der mir das Bügelbrett auf die Wiese stellt, einer, mit dem man reden kann, den man lieben kann, auch weil er nicht nur sagt, dass er mich liebt …
Endlich zu Hause sein, sich setzen und schreiben. Die Tasten drücken sich leicht. Früher Schreibmaschine, fünf Durchschläge. Jetzt geht Schreiben leichter, aber schwerer ist es, die Manuskripte in einem Verlag unterzubringen, nein, auch früher war das nicht einfach. Jetzt: „Lyrik? Gedichte brauchen Sie uns gar nicht zu schicken, damit stehen unsere Hausautoren schon Schlange, schreiben Sie einen zweiten Roman.“ Ich liebe Gedichte. Jetzt aber: „Juri der Spinner“, eine Geschichte für das Erstlesealter. Der Schluss ist zu glatt, das will ich ändern. Juri hat die Tiere mobilisiert, durch das Chaos gebracht, allerdings haben sich einige Tiere verletzt, und jetzt sitzt Juri allein da und grübelt. Ich liebe meine Geschichte, vielleicht bis morgen, hoffentlich nicht nur bis morgen. Dem Illustrator muss ich schreiben, mich mit ihm abstimmen. Was war zuerst, der Text oder das Bild? Henne oder Ei? Ein Verlag will erst den Text sehen, ein anderer zuerst die Illustrationen, wieder ein anderer beides aus einer Hand. Das wünscht man sich anders. Das wünsche ich mir anders. Aber auf jeden Fall möchte ich angenommen sein. Und eigentlich auch vom Schreiben leben können.

Corona. Anrufe. Wir müssen mit der Außenwelt verbunden bleiben. Und raus an die Luft. Der Kühlschrank sieht übersichtlich aus, zu übersichtlich, wir müssen einkaufen, für das Bonusheft einen Termin beim Zahnarzt machen.
Was wollen wir heute essen? Die Fragen gleichen sich. Es ist noch Quark da. Kartoffeln und Quark, dazu Rotwurst aus dem Glas, Leinöl, Wasser. Alles geht seinen täglichen Gang.
Die Pandemie dauert schon viel zu lange und wird noch lange dauern. Ich habe die Schränke durchgesehen – was man drei Jahre lang nicht angezogen hat, kann weg. Sachen geordnet, meine Papiere, viel zu viele Papiere. Die Belege für die Steuer gesucht. Was soll ich dem „Steuermenschen“ sagen, hohe Auflagen, die etwas Geld abwerfen, habe ich nicht. Zu wenige Lesungen. „Aber langsam müssten sich doch Gedichte, die durch Zeit und Raum gehen, die, wie es heißt, Genuss sind, durchsetzen.“ „Eigentlich schon.“
Aufstehen. Das Kreuz gerademachen. Durchs Haus gehen, den Mann ansehen, sich an ihn drücken, gemeinsam nach vorn auf die Straße blicken. Es hat ein wenig geschneit! „Gehen wir?“ Mein Knie schmerzt ein wenig. Die OP hatte ich abgelehnt. Der Riss im Meniskus ist nur ein kleiner Riss. Das kriege ich wieder hin. Jetzt in Corona-Zeit auf keinen Fall operieren lassen, wenn es nicht unbedingt erforderlich ist. Und ich kann ja laufen, wenn es sein muss, fünf km ohne Schwierigkeiten.
Der Vogel sitzt jetzt auf dem Hausdach gegenüber. Es ist eine Amsel. Sie beobachtet uns, wir beobachten sie. Gab es nicht bei Amseln auch eine Viruskrankheit? Und jetzt bei Blaumeisen? Bei Wildschweinen? Wir Menschen müssen und werden das Virus besiegen. Dieses Virus und andere Viren. So wird es sein. Wir gehören so sehr zur Natur und sie zu uns. Wir sind ein Teil der Natur. Wir vergessen es nur immer wieder und handeln gegen sie. Das rächt sich. Und Corona kann auch ein neuer Anfang sein. Muss ein neuer Anfang sein …

Nachzutragen ist, dass der Geburtstag meines Bruders im kleinen Kreis stattgefunden hat.
Und dass wir am Hochzeitstag mit einer geschmückten viktorianischen Kutsche gefahren sind, gezogen von zwei geschmückten Pferden, geführt von einem festlich gekleideten Kutscher. Und, obwohl es niemand wusste, haben uns viele Menschen am Straßenrand zugewinkt, auch für die Kinder war es ein Highlight.
Die Premieren-Lesung in der Kreisbibliothek Zella-Mehlis konnte noch nicht stattfinden, dafür aber eine Lesung im Museum der Moderne in Schmalkalden in kleiner Runde mit interessanten Diskussionen über Literatur und Kunst. Über E-Mail erreichte mich ein Dankesgruß. Und der Wunsch: Bleiben Sie gesund!

 

Heike F. M. Neumann. Foto: Privat

Heike F. M. Neumann wurde 1948 in Zella-Mehlis geboren. Die Diplom-Bibliothekarin absolvierte ein Fernstudium am Literaturinstitut Leipzig und leitete diverse Schreibzirkel. Nach der Wende Aufbau und Leitung des Stadtarchivs Zelle-Mehlis. Nach 2008 diverse Veröffentlichungen.

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