Vor dem Wind sein

Von Klaus Jäger

17. Mai
Nach dem Mittagessen mache ich mich alleine auf Reise. Ich bin die Strecke noch nicht oft gefahren, staune aber immer wieder, dass es von Bad Hersfeld bis hinter Kassel permanent bergauf und bergab geht, teils mit abenteuerlichen Kurven. Ich mache in der Stadt Werne Station. Am Natursolebad ist der hintere Bereich eines großen Parkplatzes für Wohnmobile reserviert. Man kann ver- und entsorgen, hat Strom, zahlt kommode fünf Euro für 24 Stunden. Für meine Bedürfnisse zweckmäßig: Radtouren sind von hier aus möglich, man kann wandern, ich kann schreibenschlafenlesen, und es ist nur ein Katzensprung bis zu S., die ich besuchen werde.
Ich will alles gleichzeitig: lesen, spielen, schreiben. Das funktioniert nicht, aber der Trotzkopf setzt sich durch, erst 0.40 Uhr geht die Lampe aus. Fühle mich frei und gut.

18. Mai
Als ich friere und auf den Wecker sehe, ist es erst 6 Uhr. Laptop ins Bett, Handy ins Bett, Buch ins Bett. Christoph Hein. Ich lese 18 Seiten von „Horns Ende“, denke an mein Caroline-Projekt und verzweifle. Das schaffe ich nie. Während ich mich mühe, heiter-ironisch zu plaudern, meißelt Hein seinen Horn in Stein.
Frühstück. Telefonat mit B.
Werne ist ein hübsches Städtchen. Prächtiges Rathaus, sehenswerte Fachwerkhäuser. Mehr faszinieren mich die Klinkerbauten, die man hier überall sieht. Das hat so etwas Behäbiges. Ein Eiscafé ist offen, hat aber keine Toilette. Die ist wegen Corona auch im Einkaufszentrum abgesperrt, ein Unding. Die Kirche mit einem schlanken, hohen Turm macht von innen nicht viel her; einen kleinen Buchhändler lasse ich aus, verschiebe ich.
Mittagsruhe. Ich wache schweißgebadet auf, die Sonne hat das Wohnmobil aufgeheizt. Bisschen lesen ist ein Muss. Dann springe ich aufs Rad.
Unversehens finde ich mich mitten auf dem Land wieder. Fernseh-Idylle. Kleine Felder, stabile Holzzäune, viel Pferdezucht, viel Grünlandwirtschaft, Getreide auch. Die Fahrt ist nach meinem Geschmack. Und so flach, wie man sagt, ist NRW gar nicht. Feld- und Waldwege fordern ihren Tribut. Tempo machen geht gar nicht. Aber ich habe es auch nicht eilig. Paarmal meldet sich das schlechte Gewissen: Du wirst heute nicht mehr am Roman arbeiten können. Ich sage mein Mantra auf: Vielleicht schreibe ich noch 20 Romane, vielleicht keinen mehr. Ich finde zu mir, ich fühle mich wohl, ich denke, ich habe etwas aus dem Tag gemacht. Was will ich mehr? Was soll ich mehr?
In Lünen staune ich über die unglaublich lange Stadtdurchfahrt. Später lese ich im Netz: Von 81 Großstädten in Deutschland liegt mehr als ein Drittel in NRW. Hamm, gleich in der Nachbarschaft, hat 180.000 Einwohner, das ist so viel wie Erfurt. Oder Parma. Es gibt Tausende von Radfahrern hier. Das hat Auswirkungen auf die Infrastruktur. In Lünen gibt es eine „Fahrradstraße“! Radfahrer haben Vorfahrt, erlaubt sind sonst nur Anlieger und Omnibusse. Das Henne-und-Ei-Prinzip. Wer Straßen baut, wird Autos ernten. Dann geht es über weite Strecken an der Lippe entlang ost- und heimwärts.
Kurzes Telefonat mit B. Das Abendbrot schmeckt klasse: Katenwurst, Tilsiter Käse, Sill in Curry-Sauce, Frischkäse mit Meerrettich, ein gekochtes Ei, ein Joghurt, ein Bier. Ich speise wie ein König.

19. Mai
Ausgeschlafen. Gelesen. Wieder Christoph Hein. Wieder beeindruckt. Er baut um seinen Horn ein Geheimnis auf, das du als Leser unbedingt aufspüren willst. Kluge Sätze zu Erinnerungen. Da muss ich aufpassen, sie nicht versehentlich zu kopieren. Ich notiere sie mir trotzdem.
Frühstück. Bisschen Tagebuch. Ich besuche die Buchhandlung Brockmann. Wow. Man sollte den Apoldaer Buchladen nicht als das Maß für inhabergeführte Buchhandlungen nehmen. Bei Brockmann erstehe ich „Die wunderbaren Falschmünzer“ von Rolf Vollmann, einen „Roman-Verführer 1800 bis 1930“. Ich staune über Aufmachung und Ausstattung des Buches. Es ist in „Die andere Bibliothek“ erschienen, einem von Hans Magnus Enzensberger initiierten Projekt, das seit 1985 monatlich ein Buch verlegt.
Die Bratwurst in der Pfanne (Schwiegermutter würde sagen: „im Dieschel“), Kartoffelsalat dazu, bisschen Tomate. Dazu noch einen Schuss Grünen Veltliner.
Bei Amazon stolpere ich über eine zweite Rezension zu „Carlotta“.
Ich habe mich als italien- und literaturinteressierte Sprachlehrerin sehr auf den im Frühjahr angekündigten Roman gefreut, ihn gekauft und mit eben dieser Vorfreude begonnen zu lesen. … Kurzum: Ich habe den Roman wirklich sehr oft wieder aus der Hand gelegt, weil er mich nicht abgeholt hat. … Ich brauchte viel Geduld, um den roten Faden bis zum Ende auf fast 470 Seiten zu verfolgen, die Sinnsuche des Erzählers nachvollziehen zu können. Ganz gelungen ist mir dies nicht! … Gefallen haben mir manche authentische Hinweise auf Gegebenheiten des heutigen Journalismus, der schnellen und oberflächlichen Medienwelt, des Sich-nicht-Wiederfindens eines gründlichen Journalisten.

Nun, nicht wirklich ein Verriss, aber eben leider auch nur zwei Sterne. Schade. Ach, könnte ich es doch wie Henning Mankell machen, der grundsätzlich nichts über sich las, schon gar keine Buchkritiken. Ich beschließe, mich nicht zu ärgern.
Kleiner Spaziergang am Abend. Ich wollte anderthalb Kilometer entlang der Horne nordwärts, dann zurück und in die nahe Kneipe. Aber wie ich so in einem noblen Wohnviertel herumstreife, komme ich nicht mehr über das Flüsschen. Ich erkundige mich bei einem Anwohner, der schickt mich noch weiter in den Norden. Dort führte ein Steg über den Bach, ich finde mich auf einer Bundesstraße wieder. Um sie zu meiden, musste ich weiter nach Westen. Am Ende waren es knapp fünf Kilometer, die ich für die nur 300 Meter entfernte Kneipe brauchte. Die Hornemühle ist ein großes Gasthaus, das von einer bosnischen Familie betrieben wird. Ich ließ mich von der Speisekarte und dem Wirt, der einen bodenständigen Eindruck machte, zu einem Gericht seiner alten Heimat verführen: gegrillte Schweineleber auf bosnische Art mit Djuvec-Reis, dem Tomatenreis ähnelnd, aber etwas pikanter. Das Ganze spülte ich – ebenfalls auf Empfehlung des Wirtes – mit einem halben Liter rotem Plavac hinunter, zum Verdauen gab es einen Slivovic. Die Leber war eine Wucht. Die schneiden die Scheiben fünf Millimeter dünn und quer, Schnitzelformat. Dann kommen sie auf den Grill, bis sie durch, aber nicht trocken sind. Gehört bestimmt eine Menge Erfahrung dazu.
Ich schwatze mit dem Wirt, er hat am Abend nur vier Gäste.

20. Mai 2020
Ich brauche hier nicht so viel Schlaf. Die Reise hat meinen Stresslevel weit nach unten gebracht. Es tut mir gut, hier zu sein.
Tagebuch. Schwatz mit B., die heute beim Zahnarzt war. Basiswissen angelesen: Drensteinfurt ist eine Gemeinde der gescheiterten Großprojekte. Hier sollte der Teilchenbeschleuniger des CERN gebaut werden, ein Großflughafen entstehen, ein Atomkraftwerk und eine Automobilrennstrecke gebaut werden.
Mittags aufgetautes Gulasch von B., Farfalle dazu.
Fahrt nach Bockum. Dort betreibt C. H. eine kleine Buchhandlung. Vor der Tür treffe ich mich mit S. Vorschriftsmäßig maskiert und unangekündigt stürmen wir die Buchhandlung. Wir plaudern ein wenig über das Lesen, die Literatur, das Spannungsgenre und „Carlotta“. Versprochen ist versprochen – C.H. bekommt eine „Carlotta-Tasse“. S. ist ganz verzuckert, würde die Tasse am liebsten für sich behalten, weiß nicht, dass ich noch eine zweite im Wohnmobil habe. Ich stutze kurz, frage mich, ob mich die beiden veräppeln wollen, aber die Freude scheint echt zu sein.
Wir fahren zu S. nach Hause. Ihr Mann M. empfängt mich herzlich, auch A. ist da, die Tochter der beiden. Sie ist Anfang 20 und studiert in Münster. A. und ihr Freund sind mit Ausbruch der Corona-Pandemie aufs Land geflüchtet und leben jetzt hier, wo die Freiräume größer sind als in der Stadt. Wir trinken Kaffee, später grillt M., wir essen und schwatzen, der Abend klingt sehr sehr spät mit Rotwein aus. S. und ich reden über die Arbeit. S. kann mit ihren Dänemark-Krimis wenigstens Geld verdienen. Der U.-Verlag wolle die Krimis „cozy“, und das liefert sie. Ihr Herz indes hängt an den Münsterland-Krimis, wo sie Einnahmen nur über Lesungen generiert. Wir analysieren unsere Verzweiflung über unsere Einkommenssituation, einigen uns darauf, dass man Werk und Markt trennen muss, um die vielen Ungerechtigkeiten und wenigen Gerechtigkeiten in den Bücherwelten zu verstehen. Mit M. verstehe ich mich blendend – bislang hatten wir noch keine Gelegenheit, ausführlich zu reden.
Nebenbei erfahre ich: Ein paar Hundert Meter südlich betreiben Mitglieder der weitverzweigten Stauffenberg-Familie ein Gestüt. Und Anette von Droste-Hülshoff, die ich schon am Bodensee besucht habe, hat hier gelebt und gewirkt.

21. Mai 2020
Das Frühstück wird zum Brunch, wir sitzen bis 12.30 Uhr, S. Schwester aus E. stößt dazu, schießt die „offiziellen“ Fotos unseres „Arbeitstreffens“, damit wir auf unseren Marketingplattformen auch was zum Herzeigen haben. Wir beschließen, in besseren Zeiten eine gemeinsame Lesung zu organisieren.
Zurück in meiner rollenden Schreibstube entscheide ich mich, Annette von Droste-Hülshoff auf ihrer Burg zu besuchen. Die Straßen sind gut und frei, Hunderte Radler bevölkern am Vatertag die straßenbegleitenden Radwege. Ein schöner Anblick, hätte ich auch gerne in Thüringen.
Schloss und Park beeindrucken. Auch ohne es zu wissen, spürt man das Alter, die Würde und Bürde eines solchen Familienbesitzes. Das Adelsgeschlecht von Droste-Hülshoff lässt sich bis 1209 – meine Fresse, das sind 811 Jahre – zurückverfolgen. Annette von Droste-Hülshoff ist wohl die prominenteste Vertreterin, obwohl die Familie viele Dichter und Schriftsteller hervorbrachte. Die Burg selbst wurde im 11. Jahrhundert erstmals erwähnt – noch mal meine Fresse!: Das sind 1000 Jahre –, es ist eine Niederungsburg aus Sandstein und Backsteinziegeln, sie macht den Eindruck eines behäbigen Herrensitzes. Das war auch ihre Funktion, von hier wurden 1250 Hektar Ländereien bewirtschaftet. Heute sind Burg und Ländereien eine Stiftung.
Burg, Museum und Schlosscafé sind geschlossen. Ärgerlich, weil man im Internet schon wieder begrüßt wird. Nun, ich will sowieso noch einmal zurückkehren, dann aber mit B.
Ich suche mir einen Platz für die Nacht und finde einen – ist aber nicht so schön. Der kostenfreie Stellplatz am Schwimmbad von Sendenhorst ist sehr klein und kuschelig, von Hecken umgeben mit vogelzerzwitscherter Luft, aber ich stehe mit der Schnauze nur 12 Meter neben einer Ausfallstraße. Gegen den Lärm hilft der Sichtschutz nur wenig.
Mein Versuch, zu Bs. Geburtstag Online-Tickets für den Leipziger Zoo zu ergattern, scheitert. Wegen Corona sind die Tickets nur für einen konkreten Tag und nur innerhalb eines Zeitfensters gültig.

22. Mai 2020
Gestern noch habe ich mich vor dem Wohnmobil gesonnt, heute bleibt der Himmel bedeckt und eine seltsame Schwüle hängt in der Luft. Ich lasse mir Zeit mit der Abfahrt, werde wohl in Etappen bummeln und morgen nach Hause kommen.
Zu S. 65. Geburtstag gratuliere ich ihm per Telefon. Er ist fröhlich, aber ich merke, dass es auch ihn ein wenig bedrückt, nicht „groß“ feiern zu können.
Abfahrt.
Warburg ist ein schönes, altes Fachwerkstädtchen, der Schützenplatz mit dem Womo-Platz liegt abseits, hoch auf dem Berg. Sehr steil, ich schätze 12 bis 14 Prozent. Fahrradfahren kommt für mich eh nicht infrage, weil ich erst halb drei hier ankomme und noch nicht mal zu Mittag gegessen habe.
Mittag. Abwasch. Kaffee. Lesen.
Ich rasiere mich, das erfrischt ein wenig. Den alten Rasierapparat kann ich bald wegwerfen; ich glaube nicht, dass sich ein neuer Scherkopf lohnt. Oder muss mal paar Tropfen Öl dranmachen.
Mitten in den heftigen Regen zur Abendbrotzeit eine schlechte Nachricht per Facebook.
I: Lieber Klaus, heute haben wir mit der Bibliothek in H. telefoniert. Du warst ja dort der Wunschkandidat für „Traumberuf: Schriftsteller?“. Frau H. musste das heute leider absagen. Tut mir leid, aber … 2020 ist das Jahr der ausgefallensten und abgesagtesten Lesungen. Liebe Grüße aus der Höhle
Ich: Es ist kompliziert.
I.: Da sagst du was Wahres …
Ich: Dass ausgerechnet mein bestes Buch auf so eine läppische Art und Weise zum Rohrkrepierer wird, tut richtig weh. Vier Jahre Arbeit für die Katz‘.
I.: Nein, davon darfst du nicht ausgehen. Im Moment ist es für alle neuen Bücher schwer, aber ein Buch ist kein Wegwerf-Artikel. Ich baue darauf, dass man auch später etwas dafür tun kann.
Ich: Nun, der Start ist gründlich verkorkst, da müssen wir uns nicht mit Euphemismen trösten. Und was das „Nachholen“ betrifft: Zeit lässt sich nicht komprimieren. Die Messe, die heute ausfällt, wird selbstverständlich nicht nachgeholt, alles andere ist Pfeifen im Walde. Aber ich will keine schlechte Laune verbreiten Wie sagte F. mal so schön? Ist doch nur ein Buch.
I.: Ach, ich mag jetzt nicht mehr traurig sein. Punkt.
Ich: Ein Schlusspunkt. Um mal Carlotta zu zitieren: „Wir wollen fröhlich sein und uns betrinken!“
Nun, das ist mir nicht ganz gelungen, ich werde immer vorher schon müde.

23. Mai 2020
Der Regen von gestern Abend hat die Schwüle weggeblasen. Nach dem Frühstück setzt auch der Regen wieder ein, was mich ziemlich ärgert, muss ich doch das Stromkabel wieder einholen.
Auf der Heimfahrt ignoriere ich das Navi, fahre von Kassel Ost auf Landstraßen durch eine landschaftlich reizvolle Gegend – den Übergang der Kasseler Berge über den Hohen Meißner in die Hörselberge. Um vier bin ich zu Hause. B. in den Arm nehmen, ausladen, Kaffee in Ruhe.

24. Mai 2020
Zeitungsschau der vergangenen Woche. Mich streift Frost, als ich lese, dass G. gestorben ist, die Mutter eines ehemaligen Praktikanten. G. war zwei Jahre jünger als ich.

 

Klaus Jäger. Foto: Matthias Eckert

Klaus Jäger wurde 1960 in Meiningen geboren. Er studierte unter anderem Brückenbau und Journalistik, arbeitete als Eisenbahner, Berufssoldat und Journalist. Seit 2018 selbstständig als Schriftsteller.

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