Still wie im Himmel

Von Kathrin Groß-Striffler

Jeden Abend setzt sich der Mann auf die Bank hinterm Haus und raucht eine letzte Zigarette. Er lauscht dem Ruf der Eulen, die durch die verfallenen Häuser fliegen. Sie nisten in den Dachstühlen, manchmal auch in den Schlafzimmern oder Küchen, Eulenkot findet sich auf zurückgelassenem Hausrat, verschlissener Kleidung, Spielsachen, Matratzen, überall. Es sind viele. Es gibt wieder Mäuse. Tagsüber trippeln Elche, anmutig trotz ihrer großen Leiber, über die Straßen. Wisente malmen das Fallobst, das es in Massen gibt. Außer dem Mann und seiner Mutter leben noch zwei Menschen hier, ein alter Mann und eine alte Frau. Sie haben sich dem Befehl, schnellstmöglich wegzuziehen, widersetzt. Sie haben mir gar nichts zu befehlen, hat seine Mutter den Männern von der Regierung ins Gesicht geschleudert. Ich bleibe. Wenn ich weggehe, sterbe ich. Wenn Sie bleiben, auch, hat einer der Männer gesagt. Da hat sie den Kopf geschüttelt. Hat sich umgedreht und die Männer stehen lassen. Er war dabei. Er hat gesagt, Mutter, komm mit in die Stadt. Keine Chance. Hätte er sich sparen können. Sie hat gesagt, das Schlimme war der Krieg. Das jetzt ist gar nichts dagegen. Sieht man ja nicht mal. Dann esse ich eben Atome. Atome und Fallobst, und Gemüse baue ich auch an. Das war verboten, doch das kümmerte sie nicht. Er hat seine Arbeit gekündigt und ist wieder hierher gezogen, in das Dorf seiner Kindheit, das Dorf der blühenden Gärten und der lachenden Menschen. Er konnte seine Mutter doch nicht allein lassen! Jetzt, dreiunddreißig Jahre später, lebt sie immer noch. Stolz sagt sie den Journalisten, die gelegentlich vorbeikommen, dass alle, die weggezogen sind, tot seien. Sie aber lebe! Außer den Journalisten kommt keiner vorbei. Wozu auch. Es gibt nichts zu sehen. Außer den schlanken, hohen Birken, die aus den Fabrikgebäuden wachsen, den Elchen und Wisenten gibt es nichts zu sehen. Auf den Straßen ist niemand. Hier ist es still wie im Himmel, sagt seine Mutter gelegentlich. Früher war das anders, sagt sie. Wie schön es war! Auch er ist alt geworden. In der letzten Zeit fühlt er sich nicht gut. Die beiden Nachbarn sind längst gestorben. Er hat ihnen auf dem Friedhof ein Grab geschaufelt. Seine Mutter jedoch hat das ewige Leben, davon ist er überzeugt.
Auch heute wieder setzt sich der Mann auf die Bank hinterm Haus und raucht eine letzte Zigarette. Und lauscht. Eulen kann er keine hören. Er denkt, und nicht zum ersten Mal, dass sie Recht hat. Es ist still wie im Himmel.

 

Kathrin Groß-Striffler
Kathrin Groß-Striffler. Foto: Privat

Kathrin Groß-Striffler wurde 1955 in Würzburg geboren. Sie studierte Anglistik und Romanistik in Würzburg, Nantes und Charlottesville (USA). Sie war Pferdefarmerin und Lehrerin, arbeitet jetzt im Integrationsbereich in Jena. Kathrin Groß-Striffler wurde unter anderem mit dem Alfred-Döblin-Literaturpreis ausgezeichnet.

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