FORTKOMMEN

Von Holger Uske

Mit Kreide gezeichnet auf Asphalt, mit Stroh gestreut auf Pflastersteine, nackte Erde: Hüpfkästchen. Füße in Turnschuhn, Füße bloß. Denk nicht an das Gummi, das dir die Beine bindet, spannt. Spring! Oder ist das schon ein anderes Spiel?
Steinchen werfen. Jeden Tag gewinnen. Wenn du lange genug übst. Nicht mit zu viel Schwung und besser nicht in die Mitte zielen, der Stein rollt nach. Von da an gilt’s. Auf einem Bein, auf beiden. Wenn du Champion bist, geht es auch rückwärts vorwärts. Schlafwandlerisch sicher ins richtige Feld. Tag um Tag. Und überall warten Zahlen auf dich. Mach die Grätsche. Dreh dich nicht um. Von der Erde zum Himmel. Und zurück. Das eine Kästchen vorm Himmel hast du doch bisher immer gut übersprungen, das eine, das niemand will, das uns als Kindern schon Angst einflößte. Das wir nur ganz selten verlachten, den Mädchen ganz nahe, den Jungs: Dafür kommt man in die … Quadrate bis zum Horizont. Vorgezeichnete Wege. Spring doch, ruft es von den Seitenstreifen, spring! Schneller! Hinter dir, pass auf! Und vor dir, die wirst du doch … Die Riege der anfeuernden Kinder. Das Kopfschütteln hinter den Fensterscheiben. Ich aber kann nicht zugleich auf den Boden und in die Gesichter sehen. Muss weiterkommen ohne Fehler. Auf der Fünf eine kleine Pause. Weltgerichtsgesichter rings, ewige Lehrer. Ja hast du denn wieder nicht genug gelernt? Was sie so von mir wollen. Mir fällt keine Ausrede mehr ein. Abzweigungen, Kästchenfelder nach links und nach rechts. Nur fort von den Bahnen, die alle nehmen. Was nur nach einer Seitengasse aussah, entpuppt sich als mein Weg. Da stehen auch weniger Leute. Da muss ich nicht so hetzen. Kann den Blick heben, ohne über den Kästchenrand zu geraten, den vorgezeichneten feinen Strich, der über Weiterkommen rechtet oder mein Aus. Da sehe ich auf einmal Geliebte stehen, die sich mir entzogen. Mir aus dem Weg gingen, mich nicht mal wahrnahmen, denen ich nicht genug war. Junge Gesichter, von denen du nicht weißt, wie sie in dreißig Jahren aussehen werden. Aussehen müssen, weil sie jetzt dem Nebenkerl, dem kichernden Mädel den Vorzug geben. Ich springe. Aber es sieht gar niemand hin. Auch die Route sieht jetzt ganz anders aus. Hügelan eine Kreidekästchenleiter, ein ansteigender Trampelpfad aus Zahlenfächern, wohlgeordnet und bis zur Sieben, bis zur Neun, ich ahne schon, irgendwo da vorn muss ich erst x-Quadrat mal y-Quadrat lösen, links ein Bein und rechts eins, und niemals darfst du die Klammer vergessen. Ich kriege meine Füße nur zwei Kästchen auseinander. Aber da sind vier Felder nebenan, sechs. Wieder verzweigt sich der Hüpfweg. Wer springt vor, wer ist hinter mir? Wo sind sie denn hin, die immer alles besser wissenden Plauderwegweiser? Vielleicht warten sie hinter der nächsten Biegung auf mich. Erst eine nach links, dann nach rechts. Vor mir die sich vom Boden lösenden Quadrate. Wenn ich erst einen Stein werfe und schaue … Aber ich habe keine Steine mehr. Und mit dem Finger das Feld vor mir prüfen, wie albern ist das denn? Sind da nicht neue Zuschauer zu sehen? Ist das schon die letzte Runde, bevor die Trasse ins Stadion führt? Ins Stadion, wo Hunderte von Zuschauern warten, die sich überbieten im Kreischen und Schreien: Zieh, zieh! Tagsprünge. Wochenwirbel. Monate voller Umwege. Aber alle mit einer regulären Zahl versehen. Vermummte Männer, Frauen, Kinder. Mit sich selbst beschäftigt. Kinnkleider sind neu in Mode gekommen. Wie die Bilder darauf leuchten, Zähne blecken, Lächeln imitieren. Nur die Augen sind noch zu verstehen. Keiner mehr da, der auf die alten Spielregeln achtet. Aufpasst, dass ich hier nicht schummle, noch mal Anlauf nehme vor dem Springen. Wenn ich mich dabei drehe im Flug, erkenne ich, dass hinter mir die Kästchen mit anderem gefüllt sind. Mit Matschpampe manchmal, die noch an meiner Hose klebt. Felder, wie von Farbe bestäubt. Blumenpunktmuster. Und das dort, ist das Zahlensalat? Beine verlorener Einsen ragen heraus, Vieren werden die nächsten Springer piksen. Viel zu wenige Fünfen, über deren Zahlendecke man balancieren kann. Vor mir die Kästchen sind noch unberührt. Als seien ihnen alle ausgewichen, hätten den grauer werdenden Quadraten nicht mehr getraut, dem vorgegebenen Weg. Ich sehe mich verstohlen um. Springe dann nebenan vorbei. Es ist ja niemand da, der Schiedsrichter sein könnte, Aufpasser, Bestimmer. Der mich verwarnen, aus dem Rennen nehmen könnte, lautstark beschimpfen als Betrüger, als der ich mich nun entpuppt hätte nach so vielen Jahren der Täuschung. Ein Verräter am Spiel! Traumleitern. Jetzt hebt der Weg endgültig ab. Schwebende, schwingende Kästchen im Raum. Können Kreidegitter Hangelhilfen sein? Eingespielter Beifall. Wie beim Fußball in jenem ersten Jahr. Trau dich! Ab durch die Luft und hinter mir verschwimmen unten die fest gefügten Muster. Adieu, sicherer Weg! Wie würdest du sonst fliegen lernen wollen, flüstert es. Aber wieso fliegen? Die Kästchen vor mir nur mit dünnem Teppichboden versehen. Sobald ich Angst habe, schwankt der Weg. Kein Halteseil, kein Netz unter mir, kein doppelter Boden. Aber es federt. Ja, ich muss nur richtig Schwung holen, muss einfach jedes zweite Feld überspringen und dem übernächsten vertrauen, immer dem übernächsten erst. Es ist fast wie Fliegen. Wie die Sekunden überm Trampolin. Ich komme voran. Zu beiden Seiten Gesichter auch hier. Onkel Rudi mit seiner starken Stimme, was will der denn hier? Mein zagender Großvater daneben, der immer so viel husten musste noch von dem Gas im ersten Krieg. Das Federn beinahe wie auf dem Sofa der Großeltern in der guten Stube. Wo wir, nur wenn niemand da war, springen konnten nach Herzenslust. Wie lange muss ich noch?, rufe ich nach unten. Und wo lang? Immer, kommen die Antworten rasch, immer in diese Richtung! Aber die Arme, die ich sehe, weisen hierhin und dorthin. Ja, wie jetzt? Keine Stimme als Antwort. Kein Leuchtzeichen Zeit. Kein sicheres Ziehen in der Magengegend. Jetzt verblassen die Wegstriche ganz und gar. Das Schwingen lässt nach. Der Boden schon bedrohlich nah. Abrollen, hatte ich das nicht gelernt? Aber ich brauche es nicht, es ist gerade so wie bei einem Sprung von der Mauer, das hatten wir doch oft genug geübt. Erst am Friedhofstor hinaufklettern bis auf den schmalen Mauersims. Und dann, die Gräber im Rücken, auf den Platz zurückspringen. Springen! Das Landen ergibt sich schon irgendwie. Hinter mir jetzt freie Felder, vor mir. Die Knie ein bisschen schwer vom Hüpfen. Eine Sohle hat sich vom Schuh gelöst. Schmeiß sie weg. Besser barfuß als das ewige Klappen der losen Sohle, das Stolpern, wenn du hängen bleibst, das Reiben der hereingerutschten Steinchen bei jedem Schritt. Und das Hinken mit dem einen Schuh. Fuß vor Fuß aber war doch nicht erlaubt? Und wohin nun, wenn alle Richtungspfeile fehlen? Ohne die Kreidezeichen vor mir? Von den Seitenlinien her schütteln Nebelkinder die Köpfe: Du machst Schmu. Noch könnte ich rausfliegen, müsste aussetzen, anderen den Vorrang lassen. Wären welche da. Niemandsland. Niemandszeit. Regenfetzen, Wolkenlücken. Nie hätte ich gedacht, dass die vorgegebenen Kästchen einfach im Sonnenlicht verblassen, von Regen verwaschen, Sturm verweht, von Kälte angeknabbert werden könnten. Vielleicht ist auch ein Traktor aus Versehen hier über die Strichanordnung gefahren, hatte sein Umwälzwerk schon an und hat den schönen, geraden Pfad unsichtbar gemacht. Da vorn geht es bestimmt weiter, da vorn! Wo aber ist vorn? Ich bin mit beiden Beinen im Abseits. Werfe ein Steinchen. Denk mir das Kästchen dazu. Hinter mir nur die Rufe der Schweiger. Schulranzen am Wiesenrand, alte, lederne Brottaschen. Weggeworfene Handyhüllen. Hatte ich mir nicht Kreide eingesteckt, für alle Fälle? Um immer gewappnet zu sein: Hier ist der Weg, das siehst du doch! Nur ich und die Stimmen in mir. Die sich von hinten anschleichen, von der Seite her rufen, mich abbringen wollen: Mach die Bahn frei! Das Wispern der Lehrer, der Hohn des großen Nachbarjungen, das Tuscheln der Mädchen, das Flüstern und Zischeln der Gören Alleswisser Virologen auf ihren Hab-ich-doch-gleich-gesagt-Schaukeln. Bahne frei! Wie sehr ich mir auch die Ohren zustopfen mag, die Stimmen sind da. Heulen vor Freude beim Überholen: Hier entlang, hier! Wer hätte geglaubt, dass es hier entlang geht! Tosende Stille. Ausgetrockneter Boden. Mein mühsam ruhiger klopfendes Herz.
Ich hocke mich hin und zeichne mit meinem Kreidestück neue Kästchen. Dreihunderteinundzwanzig, dreihundertzweiundzwanzig. Bei Fünfundzwanzig wie immer die Verzweigung. Dann werfe ich die Kreide weg. Schlag mich seitlich in die Büsche. Irgendwo da vorn werde ich, die vor mir liefen, treffen. Dann die hinter mir Kommenden. Mit raschen Sprüngen, auf einem Bein, die Arme wirbeln in der Luft. Flugsteine werden vorangeschickt. Aus Luftmündern dringen altbekannte Kommentare. Das ist eben so in Jahren mit gleichen Doppelziffern. Hattet ihr das vergessen? Vor hundert Jahren schon mal. Grasbüschelbeifall. Blattraschelapplaus. Zustimmendes Zirpen von irgendwo oben. Vorn vom Feld sendet der Traktor sein dröhnendes Pfeifen. Wieso hatte ich eigentlich die ganze Zeit dieses blöde Gummiband am Bein? Zurück! Noch mal von vorn!, sagt eine Stimme ganz nah. Ich zeig ihr einen Vogel. Ob sie mich nun sieht oder nicht. Und mach mich davon.

 

Holger Uske. Foto: Privat

Holger Uske wurde 1955 in Riesa geboren und lebt seit über 60 Jahren in Suhl. Der studierte Gerätetechniker schreibt seit 1972, wechselte mit der Wende in den Journalismus und war viele Jahre lang Pressesprecher der Stadt Suhl.

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