Geplatzte Pläne - Neue Chancen

Von Sieglinde Mörtel

Im Oktober 2019 hatte ich es gehofft, im November geahnt und im Dezember gewusst: Das kommende Jahr wird für mich ein besonderes – geprägt von Klatsch und „Tratsch vun frieher un itze“. Mit meinem neuen Buch hatte ich offenbar den Nerv einer interessierten Leserschaft getroffen.
Im dritten Quartal 2019 hatte ich mit Lesungen sowie dem Ausliefern und Versenden alle Hände voll zu tun. Ähnlich wie im Vorjahr, als „Baumklau und Flüsterstollen“ neu erschienen war. Doch im Gegensatz zu den Weihnachtsgeschichten, die naturgemäß bis zum nächsten Herbst vor sich hin schlummern, würde die Mundart das ganze Jahr über Saison haben. Schon zum Jahreswechsel standen zwölf Lesungstermine in meinem Kalender – das hatte es zuvor noch nie gegeben. Und weitere würden hinzukommen. Inzwischen gab es schon Pläne für erste Veranstaltungen mit passender Musik. Zudem hatte sich die Zusammenarbeit mit einigen Schulen angebahnt, um „Mundart als Kulturgut“ im Deutschunterricht praxisnah zu erörtern.
Abseits der Tratscherei stand ein weiteres Projekt an, „Dunkle Geschichten aus Thüringen“, Abgabetermin April 2020. Somit war klar, dass dieses Jahr ein schaffensreiches werden würde und ich meine Zeit sehr genau planen sollte.
Also plante ich und schrieb; plante weiter, verbuchte hocherfreut die aus dem Weihnachtsgeschäft eingehenden Zahlungen und dachte mir: So muss das sein in einem „besonderen“ Jahr.
Im Januar lief tatsächlich alles nach Plan. Nebenher vernahm ich, dass aus China seltsame Schauergeschichten vermeldet wurden, aber China war weit weg!
Auch Anfang Februar funktionierte er noch, mein Plan. Ich schrieb „Dunkle Geschichten“, verschickte Bücher, tratschte und dachte mir: Ach wie gut, dass ich nicht Ski fahre, erst recht nicht in Österreich.
Am 13. Februar durfte ich in der Saalfelder Bibliothek noch mal genüsslich klatschen und tratschen, unter anderem mit Anne G., meiner Kollegen. Wir machten uns im Anschluss einen schönen Abend, vorerst den letzten dieser Art. Dann war’s vorbei mit der Planerfüllung. Peng!
Im Saale-Orla-Kreis gab es den ersten Coronafall und in meinem Kalender den ersten gestrichenen Termin. Es war der 5. März. Die Lesung zur Buchmesse am 14. März habe ich ebenfalls gestrichen, auch die am 20. März in Stadtroda. Danach strich ich nichts mehr, ich packte den Kalender einfach weg. Stattdessen hockte ich vorm Nachrichtensender wie das Kaninchen vor der Schlange.
Rückblickend kommen mir diese Tage vor wie eine Art Schockstarre. Gelähmt am Körper und im Hirn, tappte ich zwischen Schreibtisch und Sofa hin und her. Es gab nur noch einen regulären Termin pro Tag, den Gang zum Briefkasten, um die Zeitung zu holen.
Der Kulturteil war’s, der mich aus meiner Lethargie befreite, obwohl es inzwischen keine Veranstaltungstipps mehr gab. Dafür erblickte ich eines der Dinge, die Kollege Frank Q. schon seit Langem vermisste: den Fortsetzungsroman.
Ich selbst hatte ihn bisher nicht vermisst, doch augenblicklich musste ich an meine Oma denken. Ich sah sie vor mir, am Küchentisch sitzend, die „Volkswacht“ vor sich, die Brille auf der Nase. Oma redete gern, hörte zu und schien fast immer Zeit für mich zu haben. Nur in diesen Momenten sagte sie: „Warte mal, ich will nur noch fix meine Geschichte lesen.“
Ich weiß nicht mehr, ob zu jener Zeit überhaupt Veranstaltungstipps in der Zeitung standen. Falls doch, hätte sie meine Großmutter wohl nicht gelesen. Wann die Rentnerweihnachtsfeier war, wusste sie auch ohne Zeitung, Kino gab es im Dorf nicht und die jährliche Bustour organisierte sie selber. Es bedrückte sie offenbar nicht, dass ansonsten nicht viel stattfand. Ich fragte mich, wie sie mit dieser seltsamen Zeit heute klargekommen wäre. Also setzte ich mich nun an den Küchentisch, schob mir die Brille auf die Nase, legte die Zeitung vor mich hin und begann, „Carlotta“ zu lesen …
Großmutter – zwei Weltkriege, Hungersnöte und bittere Entbehrungen hatte sie erlebt. Hatte gebangt um Mann und Sohn an der Front, hatte Kinder zu Grabe tragen müssen. Dennoch hatte ich sie als meist lebensfrohen Menschen in Erinnerung.
Ich beschloss: Schluss mit dem Gewimmer! Und zitierte gedanklich meines Großvaters Spruch: „Orschbackn zesamm kneife un dorsch!“
Meine Bestandsaufnahme ergab: Essen, Trinken, Wohnung, Heizung – alles da. Selbst Luxus wie Telefon, Internet, Whatsapp. Im Regal Bücher, die ich lesen wollte, wenn ich mal viel Zeit hätte. Auf dem Schreibtisch ein angefangenes Projekt, wofür ich mir auch viel Zeit gewünscht hatte. Um mich herum bewaldete Berge mit Wegen, die ich irgendwann erkunden wollte. Ich stieg in meine Wanderschuhe und lief los. Zugegeben, der Knaller war es nicht, allein draußen herumzulaufen. Aber immerhin besser, als gesenkten Hauptes und mit hängenden Schultern zwischen Schreibtisch, Sofa und Corona-Nachrichten hin- und herzutigern.
Mit der Ablieferung der Texte fürs neue Buch war ich spät dran. Das lag daran, dass mir die düsteren Geschichten in der düsteren Zeit mehr zu schaffen machten als gedacht. Dass ich es am Ende schaffte, hatte auch mit Verenas Z.s Zuspruch und dem meiner Freundin Marion G. zu tun. Nach Manuskriptabgabe stellte ich fest, dass es 20.000 Zeichen mehr waren als vorgegeben. Eine Geschichte flog raus. Unter normalen Umständen hätte ich mich darüber geärgert. Diesmal verschob ich sie gelassen in den Ordner „Schublade“.
Klammheimlich waren Ostern und Pfingsten vorbeigegangen, fast unbemerkt war ich 60 geworden. Laut Plan, der bis vor 30 Jahren galt, hätte ich erstmals Altersrente bekommen. Ich vermerkte in meinem Tagebuch: „Der große Lebens-Plan hatte ebenso wenig funktioniert wie mein akribischer Arbeitsplan für 2020. Egon Olsen lässt grüßen.“
Gerade war ich dabei, in jenes Loch zu fallen, das sich regelmäßig auftut, wenn ein Buch fertig, der Schreibtisch aufgeräumt und die Wohnung auf Vordermann gebracht ist. Was nun? Ein paar Tage dümpelte ich herum und ertappte mich dabei, wie ich unterbewusst schon wieder etwas zu planen versuchte. Plötzlich klingelte das Telefon. Der Neustädter Buchverein fragte an, ob ich ein paar Mundart-Texte für eine Reihe auf Youtube einlesen würde. Eine solche Aktion wurde mir schon öfter angeraten, doch in Eigenregie hätte ich das nie hinbekommen. Jetzt kam die Chance völlig ungeplant daher.
Kurz darauf erschien in der Zeitung Ulf A.s Rezension zu meinem Mundartbuch. Ich weiß nicht, ob das in „normalen“ Zeiten so geschehen wäre. Die Flut an Buchbestellungen, die daraufhin folgte, hatte ich außerhalb der Vorweihnachtszeit noch nie erlebt. Hocherfreut ließ ich nachdrucken, was so nicht geplant war.
Und dann war er da, der Sommer. Die „seltsame Zeit“ war vorbei, zumindest teilweise. Gewiss, der andauernde Maskenball nervte, das Kulturleben lief auf Sparflamme und Urlaub fand nur begrenzt statt. Ich sah nur zwei Wege, mit der Situation umzugehen. Frustriert zu sein, weil vieles nicht ging, oder dankbar für das, was ging. Ich entschied mich für den zweiten, nachdem ich abermals gedanklich Großmutter konsultiert hatte. Ihre Devise war: „Nimm’s, wie’s kommt, und mach das Beste draus.“
Ich habe nie eine Lesung derart genossen wie meine erste nach vier Monaten Zwangspause in Camburg. Ich empfand sie als eine Art Wiedergeburt. Dass ich kurz darauf Neuland betrat, war Ellen Sch. geschuldet. Meine Bedenken, dass ich so was noch nie gemacht habe und gar nicht wisse, ob ich das kann, wischte sie hopplahopp beiseite, worauf ich mich erstmals in einer Projektarbeit mit Grundschulklassen wiederfand. Da meine Zielgruppe bisher überwiegend Personen ab 40 waren, stand die Arbeit mit Kindern ursprünglich nicht auf meinem Plan. Auch für diese Aktion bin ich dankbar, denn dabei ist nicht nur etwas richtig Gutes herausgekommen. Sie hat mir selbst auch Riesenspaß gemacht und mir gezeigt, dass ich das durchaus kann.
Ich bezweifle, dass ich mich ohne diese Erfahrung an der FBK-Anthologie zur „Besonderen Zeit“ beteiligt hätte. Also habe ich mich zum ersten Mal an eine Geschichte für Kinder und Jugendliche gewagt. Dazu wäre es wohl nicht gekommen, wenn das Jahr 2020 nach Plan verlaufen wäre.
Im November dieses seltsamen Jahres machte es wieder Peng. Diesmal strich ich die Termine nicht erst durch, ich klappte den 2020er Kalender gleich zu. Ich tappte auch nicht mit hängendem Kopf zwischen Sofa und Schreibtisch hin und her. Im Gegenteil, ich war froh darüber, dass ich – trotz aller Widrigkeiten – in der Zwischen-Phase dennoch vier Veranstaltungen gestalten, zu Richard Schäfers Bücherbar und in der MDR-Kulturnacht zu Gast sein durfte und mich zur Manuskriptwanderung mit den Kollegen treffen konnte.
Dankbar bin ich auch für das Bödecker-Projekt, Lesungen und Interviews zu produzieren, die ich nun Besuchern meiner Website per Link anbieten kann. Hätte es diese Möglichkeit in „normalen Zeiten“ gegeben?
Und selbst jetzt, da ich dieses ungewöhnliche Jahr aus meiner persönlichen Sicht im Zeitraffer Revue passieren lasse, kommt mir der Verdacht, dass ich es so sicher nicht getan hätte, wenn nicht Ende November Olaf T.s Anschreiben gekommen wäre. In einem gewöhnlichen Jahr wäre auch diese VS-Anthologie nicht entstanden.
Ich gebe zu, ein wenig graust mir vor den kommenden Tagen und Wochen, denn allzu fröhlich werden weder die Weihnachtstage noch der Jahresbeginn. Doch eines werde ich definitiv nicht tun: planen. Nachrichten gebe ich mir nur noch zweimal am Tag, stattdessen werde ich meine Text-Schublade weiter befüllen und schauen, was daraus wird. Und ich werde Augen und Ohren offenhalten für eventuelle Chancen, die bekanntlich selbst in Krisenzeiten daherspaziert kommen.
Die überschüssige Zeit werde ich wohl aussitzen oder lesend und DEFA-Märchenfilme schauend auf dem Sofa ausliegen.

 

Sieglinde Mörtel. Foto: Privat

Sieglinde Mörtel wurde 1960 in Kahla geboren. Die gelernte Finanzkauffrau besuchte die Fachschule für Journalistik und arbeitete bis 1996 als Redakteurin, danach als freiberufliche Journalistin. Ihre jüngstes Buch ist ein Mundart-Buch unter dem Titel „Tratsch vun frieher und itze“.

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