Besuch

Von Rudolf Köhler

Ausgerechnet heute, als ich durch die Straßen unserer Stadt schlenderte, ist es mir, nachdem Anna von Münchhausens Buch fertig gelesen war, in den Sinn gekommen, ob denn nicht vielleicht in seinem höheren Lebensalter der berühmte Baron von Münchhausen auch – wie so viele andere große Frauen und Männer – dem Dichter Goethe in Weimar seine Aufwartung machte.
Nein, versteht mich bitte nicht falsch. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür. Nicht mal Indizien.
Aber dennoch! Es würde ohne Weiteres zum Baron von Münchhausen gepasst haben, sich noch im reiferen Alter auf eine Kanonenkugel zu setzen und zum wesentlich jüngeren Dichter Goethe zu fliegen. Nur keines dieser lückenlos geführten Gästebücher im Hause am Frauenplan spiegelt diesen Besuch wider. Auch direkte Augenzeugen lassen sich vor Ort nicht mehr befragen. Einerseits folgt man der gegebenen Theorie, der im Grunde jede Logik fehlt, dann lacht man herzlich über die verqueren Fantasien.
Andererseits ist man aber gern bereit, seinem Gefühl zu folgen.
Wo aber kommt denn nun die Kanonenkugel her, die seit ihrem Fund vor Urzeiten in der äußeren Hauswand des Gasthofes „Zum Weißen Schwan“ eingemauert worden ist? Fragt man weiter, was das für eine Kanonenkugel sei und wo sie hergekommen ist, so bleiben alle still. Selbst meine Urgroßmutter Olga, die nur wenige Meter neben dem Geschoss in der Gasse wohnte, schüttelte zu Lebzeiten nur still mit dem Kopf und wechselte dann immer das Gesprächsthema.
Hatte man vielleicht Angst, etwas preiszugeben und damit in die Ecke eines Lügenbarons gestellt zu werden?
Nur nicht lügen. Wer lügt, so sprach man allgemein, bekommt eine Ohrfeige.
Komische Zeiten damals.
Doch kommen wir zurück in unsere Tage und bemühen uns um Sachlichkeit. Könnte es denn nicht so gewesen sein, dass der Baron von Münchhausen tatsächlich an einem gewittrigen Herbstabend in den frühen 90iger Jahren des 18. Jahrhunderts hinter dem Brunnen vor Goethes Haus gelandet ist? Vielleicht wollte er die Gelegenheit nutzen, um den Dichterfürsten ohne viel Aufsehen zu überraschen, weil es sich gerade so ergeben hatte und Münchhausens Reiseweg zufällig an Goethes Domizil vorbeiführte. Begünstigend kam bei dem Unternehmen hinzu, dass bei solchem Wetter, im Schatten von Blitz und Donner, das Landegetöse einer Kanonenkugel leicht zu überhören war, zumal nur wenige Verzweifelte noch auf den Straßen herumliefen und ein jeder froh gewesen sein musste, halbwegs sicheren Fußes seine eigenen vier Wände erreicht zu haben. Was interessiert da noch ein älterer, regennasser Mann, der im Halbdunkel an Goethes Haustüre klopfte und schließlich eingelassen wurde?
Die Kanonenkugel verbarg der Reisende wahrscheinlich zuvor im Gestrüpp einer nahen Buschgruppe, um später, bei Wetterbesserung, den Heimflug unbemerkt antreten zu können. Denn selbst damals und auch im aufgeklärten Weimar empfand man den Ritt auf einer Kanonenkugel als merkwürdig. Das hätte einige Diskussionen unter der Bevölkerung hervorgerufen.
Egal, wie sich die Sachlage richtig darstellt – gehen wir einfach davon aus, dass dieser Besuch tatsächlich stattgefunden hat.
Was Goethe und Münchhausen geplaudert und diskutiert haben, falls es so war, ist durch die sonst bekannten Informationsquellen nicht überliefert. Vereinzelte Stimmen jedoch ließen verlauten, dass an jenem Herbstabend im Juno-Zimmer oft laut gelacht wurde und noch lange das Licht leuchtete. Aber wann brannte es dort mal nicht?
Später machte sich bestimmt der Hunger breit. Kein Wunder aber auch. Das ist völlig normal.
Münchhausen folgte demnach gern der Einladung des Hausherrn in den Gasthof „Zum weißen Schwan“. Es war das erste Haus am Platze.
Würde man den damaligen Wirt zum Besuch der zwei Dichter noch befragen können, dann hätte der – wie zu vielen anderen Episoden – vielleicht genügend Beiträge zu liefern. Dank ihm sind viele Geschichten bis in unsere Zeit erhalten geblieben. Wurden sie doch zur späteren Erinnerung auf die Ränder der Bierdeckel geschrieben. Zum Beispiel bestellte eines Abends Goethe einen Wein mit Wasser vermischt. Die Herren Studenten aus Jena am Nachbartisch lachten laut und spotteten über unseren Dichterfürsten. Doch dieser sprach ruhig:
„Wasser allein macht stumm.
Das beweisen im Teiche die Fische.
Wein allein macht dumm.
Das beweisen die Herren am Tische.
Und da ich beides nicht will sein,
trink ich Wasser vermischt mit Wein.“ Es wird wohl daran gelegen haben, dass man hier vergebens nach Hinweisen auf den runden Bieruntersetzern sucht. Weil beide Herren dem Rotwein zusprachen.
– Schade!
Inzwischen war es draußen finstere Nacht geworden. Der Regen rann unaufhörlich. Keine freundliche Geste wäre es gewesen, einen inzwischen liebgewonnenen Gast bei diesen Bedingungen einfach zurück auf den Weg zu schicken. Auch die letzte Post war bereits seit Stunden fort. Man hatte ausreichend getrunken und sich gut kennengelernt dabei. So lag es nahe, dass der prächtige Münchhausen die Nacht im Hause Goethes verbringen sollte.
Nach dem Frühstück kam der Abschied. Nicht ohne die ernsten Vorsätze, sich baldigst wieder zu treffen, um sich dann auch dichterisch näherzukommen.
Die ganze Familie Goethe stand winkend am Fenster, als die Postkutsche mit dem lieben Münchhausen um die Straßenecke bog und Richtung Erfurt entschwand.
Wahrscheinlich war das Reisen per geschütztem Wagen an diesem Tage angenehmer als der kalte Ritt auf einer Kugel?
Münchhausen wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass seine Reisetätigkeit künftig altersgemäß stark eingeschränkt werden musste und sich ihm die faktisch unlösbare Aufgabe stellte, seinen neuen Freund mal wieder aufzusuchen und dabei seine in Weimar geparkte Kanonenkugel nach Hause zu holen.
Erst 1806 entdeckte ein Gärtner bei Umgrabungsarbeiten den Fund unter den Büschen.
Und weil die Kugel zum Wegschmeißen viel zu schön war, wurde sie mit freundlicher Sympathie, aber bis heute namenlos, in die Hauswand zum „Weißen Schwan“ eingelassen.
Vielleicht, so träumt der historische Spinner, der das aufgeschrieben hat, kommt irgendwann mal eine Person an den Ort, die über ausreichend familiäre Kenntnisse verfügt und die in der Lage ist, eine fundierte Zuordnung der Kanonenkugel zu treffen?
Sollte es sich um nachgewiesenes Eigentum der Familie von Münchhausen handeln?
Es wäre eine Sensation und Weimar um eine Attraktion reicher!

Zum Besuch

Hallo Ihr Lieben,
Ihr fragt, warum ich eine Geschichte aus dem Leben des beliebten Lügenbarons von Münchhausen schreibe, wo er doch schon so lange tot ist und eh nichts mehr davon hat? Richtig!
Aber in diesem Jahr jährte sich zum 300. Mal sein Geburtstag und eine seiner Nachkommen, die Anna von Münchhausen, hat zu diesem Anlass das Buch „Der Lügenbaron“ geschrieben. Es ist ein schönes Buch.
Nach der angenehmen Lektüre kam es mir in den Sinn, über andere Münchhausens nachzudenken, die ihrerzeit auch in Weimar zugange waren und die in diesem Buch keine Erwähnung fanden. Es kam mir in den Sinn, irgendwann mich mit der Autorin darüber auszutauschen und sie zu einer Lesung für 2021 in den “Alten Dorfsaal zu Ulla“ einzuladen.
Doch wer, frage ich, kommt freiwillig in einen alten Dorfsaal, wenn da nicht noch einige Mysterien offenstehen würden? Die satirisch-fiktive Geschichte ist der Frau Anna von Münchhausen als Einladung zugegangen. Sie schreibt: „Lieber Herr K., vielen Dank für Ihre freundliche Einladung zur Lesung nach Ulla. Ich komme gern. Aber die Frage, ob ich eine Erklärung habe hinsichtlich der Kanone im ‚Weißen Schwan‘, drängt natürlich zu einer Auflösung, und darum kann ich mich gern bemühen.“
Wir, die Initiatoren der Veranstaltungsreihe „Die Welt in Ulla“ freuen uns sehr auf diesen Besuch.

 

Rudolf Köhler. Foto: Privat

Rudolf Köhler, 1949 in Weimar geboren, hat als Bauarbeiter, Zimmermann, Meister und Bauingenieur gearbeitet. Er veröffentlichte in verschiedenen Zeitschriften und las im Rundfunk.

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