Tagebuch aus der Corona-Epoche

Von Heidi Büttner

18. April 2020
Verbotsschilder und Absperrketten

Der Frühling lässt
sich den Berg nicht
verbieten,
er atmet Schlüssel-
blumen auf den Hang,
aus seinen Hosentaschen
rieseln Veilchen ins Gras.
Scharbockskraut und
Buschwindröschen, die
der Wind unter die Büsche
gestreut hat, die
nicken sich freundlich zu.

Du bist frei zu gehen,
wohin die Sonne
dich lockt, und
nur der Nordwind
bewahrt dich vor
dem Gluthauch-SOMMER.

30. Juni 2020
Impressionen vom Auftauchen aus der Depression

Wolken haben wir, fast wie aus dem letzten Jahrhundert! Weiß und plustrig, manchmal auch groß und schwarz mit Donner und Blitz.
In der Südthüringen-Bahn siehst du Leute, die auf Neuseeland das Radfahren entdeckt haben. Sie wollen es jetzt in Thüringen probieren. In Thüringen ist es garantiert gefährlicher als dort. Dort gibt es nur Hobbits. Hier gibt es Schlaglöcher.
Im April konntest du in Coburg in der Innenstadt im Freien Parken. Jetzt sind selbst die Parkhäuser wieder rammelvoll. Im April haben die Leute nur noch heimlich gehustet. Selbst im Mai hast du dir nicht getraut, ein Taschentuch rauszuholen und den Heuschnupfen auszupusten.
Ich bade im Pool statt in der Menge. Zwei Züge hin, zwei Züge zurück. In der Sauna ist das Wedeln verboten. Wenn du jetzt keinen Menschen zum Reden hast, bist du am Arsch!
Oder in der Flut des Internets.
Flecken von großen, alten, braunen Fichten breiten sich am Blessberg aus und fressen grüne Bäume. Die Leute fahren Brennholz und stapeln es meterweise in ihre Gärten. Trotzdem werden die braunen Fichten immer mehr.
Wenn ich Zeitungen aus dem Januar lese, dann sind das Geschichten aus einer anderen Welt.
Gute Freunde fressen vergiftete Nachrichten aus dem Buch der fröhlichen Gesichter und sterben in meiner Adressliste, obwohl sie physisch noch da sind, aber sie sehen mich auch nicht mehr, sie stehen neben mir wie die dürren Fichten im Wald.
Und jetzt ist jeder Tag mit Regen ein guter Tag.

Schalkau, im August 2020
Aber von irgendwas muss ich ihn ja bezahlen

Ich habe ein halbes Jahr lang gespart. Weil ja doch die Weltkrisen immer unberechenbarer werden, habe ich einen schicken holzbeheizbaren Küchenofen mit Backröhre und Stahlplatte bestellt und in dieser Woche darf er aufgestellt werden. Ich habe Homeoffice und bin daheim.
Was ist, wenn im schmelzenden Permafrostboden die ganzen russischen Gasleitungen versinken, wenn amerikanische Quertreiber die Nord Stream in der Ostsee versinken lassen, die Kohlekraftwerke kein Kühlwasser mehr haben? Ich kann dann immer noch kochen! Und heizen. Ich hasse kalte Wohnungen.
In diesem August ist das aber kein wirklich ernst zu nehmendes Thema. Ein Hochdruckgebiet kocht den letzten Tropfen Wasser aus den Wiesen und der kühle Hauch des Morgens ist bereits lang vor Mittag in der Sonne verdunstet. Selbst die braunen Schnecken sind abgetaucht.
Wir sind im Homeoffice verabredet zur Weiterbildung Kommunikation und Organisation mit internationaler Software. Drei der Kollegen sitzen mit der Referentin in Hamburg, zwei in Nürnberg und der Rest in irgendwelchen Bürosilos in der Republik verteilt. Wir üben vernetztes Arbeiten. Als die Runde sich in der virtuellen Welt vorgestellt hat, kommen in der realen Welt die Ofenmonteure. Das sind große, stämmige Jungs, die das Gerüst für einen großen, ehrwürdigen Ofen hereintragen. Sie stellen Stück für Stück das Gerät zusammen, während ich im komplett verdunkelten Arbeitszimmer Dateien mit Attributen hin und her schiebe. Die Referentin erklärt, wie wir Texte ein- und auschecken, um sie vor fremdem Zugriff zu schützen. Inzwischen bohren die Monteure ein großes Loch in den Schornstein. Das mit dem Auschecken hätte ich mir gerne noch einmal erklären lassen, aber der Schlagbohrhammer würde dann das gesamte virtuelle Netz zusammendröhnen, und das will ich nun wirklich nicht.
In Köln ist es inzwischen 30 Grad im Büro. Die Kollegin gibt entnervt auf und geht in die Apotheke, Kopfschmerztabletten holen. Währenddessen fliegt die Maus der Referentin von Bild zu Bild. „Achten Sie darauf, dass Sie alle Pflichtfelder ausfüllen. Wenn Sie Dateien ohne ausgefüllte Pflichtfelder versenden, kommen die nie an, auch wenn das System Ihnen den Versand bestätigt hat.“
Die Ofensetzer sägen im Hof Schamotte zurecht und ich kann wieder nicht fragen, was es mit den Pflichtfeldern so auf sich hat. In unserem normalen Arbeitsalltag werden Prozessdokumente nur rausgeholt, wenn irgendwelche Kontrollen kommen. Was sich andauernd ändert, sind die Überschriften. Der Prozess läuft ungeachtet dessen ziemlich gut ohne die Prozessdokumente.
Das soll sich nun ändern. Die Harmonisierung und Standardisierung scheitert jetzt aber erst einmal daran, dass das Netzwerk die Referentin rauswirft. Eine gute Gelegenheit für die anderen Teilnehmer, den standardisierten Prozess zur Hölle zu wünschen.
Die Kölner Kollegin ist wieder da. Tapfer kämpft sie sich durch die Lehrgangsunterlagen. Hat sie etwa auch ein viel zu teures Hobby zu Hause? Aber sie muss die Gefährdung der Mitarbeiter am Arbeitsplatz durch prozessbedingte Arbeitsverdichtung beurteilen und muss das Verfahren mit diesem standardisierten Prozess abwickeln, der nur widerwillig mit den laufenden Prozessen kommuniziert und bei dem jede Information händisch neu eingetippt werden muss. Bei etwa zweieinhalbtausend Fällen.
Der Referentin ist das durchaus klar, sie bemängelt mit echtem Ärger, dass in der aktuellen Version vor dem Update die Schnittstellen noch gut sichtbar in der Bearbeitungsleiste eingefügt waren, aber nach den Nutzerprotesten aus der Wirtschaft nun bereits in der übernächsten Version wieder zur Verfügung stehen werden. Es handle sich schließlich um ein wachsendes System, das mit und um die Nutzer sich entwickle und vervollständige.
Es geht weiter mit Projektplanung und Kalendernutzung. Prompt kommen die Teilnehmer-Mustertexte aus ganz Deutschland: „Eis holen!“, Ballonfahrt buchen“, „Schwimmbadeinweihung“ und „Bier kaltstellen“. Die Referentin schreibt: „Kinder ins Ferienlager bringen!“
Der Rest geht dann doch wieder im Prozessmanagement unter. Die Ofenbauer hatten jetzt mit ihrer Hände Arbeit ein sichtbar schönes Stück Herd für Holzfeuerung aufgebaut. Krisenfest und brandschutzregelkonform. Der Chef fotografiert das Objekt noch einmal, wir verabschieden uns coronagerecht und dann so beim Abschied fragt er ganz vorsichtig und voller Ehrfurcht, was ich da gerade im Homeoffice arbeite und lerne.
Beim besten Willen, ich kann es ihm nicht erklären. Aber von irgendwas muss ich seine Arbeit ja bezahlen!

Schalkau im November
Seminararbeit zum Thema „Schräglage“
(Nach einem wahren Bericht)

Steil aufragende Fichten stehen eng aneinander im Novemberblau.
Chorsänger treffen sich heimlich auf der Waldlichtung, und
Heimatlieder erklingen voll Wehmut.
Riesenbärenklau schützt sie vor den Blicken der Polizei.
Ärger und Sorgen fließen im Gemurmel des Baches davon.
Gegenüber probt der Buntspecht Trommelakkorde.
Leise stimmt der Dirigent das C an.
Alt und Sopran üben sich in Harmoniebögen.
Grummelnd stimmt der Bass mit ein.
Eigentlich sind sie nur Spaziergänger, die sich zufällig hier fanden.

Das letzte Wort für den November:
So haben wir uns jetzt in der Pandemie eingerichtet. Als Wolkenmenschen.
Wir legen unsere Gedanken und Wünsche in der Wolke ab, wo sie als Ticket wieder zu uns zurückkommen, entweder in der Produktivumgebung oder auf der Störungsseite, mit der ich nix anfangen kann, weil sie unüberschaubar geworden ist.
In der Produktivumgebung werden unsere Gedanken gepflegt, entweder als Stammdaten, die immer da sind, oder lokale Aktivitäten, mit denen sich meine Gedanken von denen der anderen unterscheiden. Wenn man Orientierung benötigt, wird man einer Gruppe zugewiesen, in welcher alle mit den gleichen Werkzeugen hantieren. Die Gedanken der anderen Wolkenbewohner werden wolkentauglich und konvektiv (aufsteigend) oder deszendes (absteigend) bearbeitet. Alle tun das mit größter Sorgfalt und Akribie. Die Wolke merkt sich alles. Keiner will als Störenfried dastehen.
Störenfriede werden beobachtet, beraten, nachgeschult oder bei Misserfolg deaktiviert, indem die Wolke sie zeitnah aus den Gruppen entfernt und abbaut. Ihre Werkzeuge, mit denen sie bis eben noch wirksam gegen das Absteigen gekämpft haben, verschwinden wie von Geisterhand aus der Gegenwart. Sie selbst verschwinden durch Löschung und sind nur noch im Ticketuniversum als fehlgeleitete Suchanfragen auffindbar.
Wir gewöhnen uns an, unsere Gedanken wolkenkonform zu formulieren. „Bitte tragen Sie sich in die SharePoint-Datei ein, wenn Sie gegen Grippe geimpft werden möchten!“
Corona-bedingte Selbstisolation muss nicht mehr beantragt werden. Kommen und Gehen ist weltweit auf MEZ eingestellt.
Manchmal ruft jemand an, der aus allen Wolken gefallen ist. Dann merke ich, dass wir noch da sind.

 

Heidi Büttner. Foto: Privat

Heidi Büttner, 1962 in Blankenhain geboren und heute in Schalkau lebend, arbeitete viele Jahre beim Meteorologischen Dienst in Potsdam. Nebenberuflich wirkte sie als Schriftstellerin und Lektorin des Südthüringer Literaturkalenders.

Zum Eintrag in der Autorendatenbank hier.