Das gestohlene Jahr

Von Matthias Biskupek

Ein der Krankheit abgerungenes Jahr in einer guten Handvoll Tagebuchnotizen

Lupf mei Stlumpf – Montag, 27. Januar 2020
Dieser Satz kommt im Film „Lost in translation“ mit Bill Murray vor. Eine japanische Prostituierte spricht ihn, um Bill Murray anzumachen. Ich weiß gar nicht mehr, ob er den Strumpf dann lupft und sich in der Übersetzung verliert.
Mir fiel der Satz beim steilen Anstieg von der Schwarza hinauf nach Meuselbach zur Kirche ein. Denn mein Strumpf – aber nur der rechte – rutschte nach und nach bis zur Ferse hinab. Hochgezogen, doch der Stlumpf lupfte wieder hinab. War ich ein Hanghuhn, mit ungleichen Füßen?
Anderntags andere Strümpfe angezogen. Wieder rutschte der Strumpf beim Bergansteigen hinab. Wieder der rechte und nur der rechte. Wieder und nur beim Anstieg. Ist es ein Fehler, hoch hinauf zu wollen? Gab es hier notwendige und hinreichende Bedingungen, um ein Strumpfrutschen, also ein Stlumpflutschen, zu bewirken? Menschliche Füße sind ungleich, sagt die Wissenschaft. Schuhe sind gleich, sagt die Massenproduktion.
Wir verharren bei diesem Problem und überlassen die Lösung dem Leser – nein, natürlich der Leserin, welche bekanntlich mit Stlumpf- und Lutschploblemen vertlauter ist als jedel Mann.

Rowohlt und Ringelnatz – Mittwoch, 26. Februar 2020
Auf der MDR-Kulturradio-Lesezeit kommt derzeit Ringelnatz. Harry Rowohlt liest ihn – neben anderen seiner Lieblinge – kongenial, in einer Aufnahme von 2001. Es muss etwas später gewesen sein, als Renate Holland-Moritz mir die Briefbände von Harry Rowohlt ans Herz legte: „Das MUSST Du lesen!“ Wenn ich einen Band gelesen hatte – und von ihr examiniert worden war –, bekam ich den nächsten.
Der Erste Ringelnatz-Kenner Thüringens war gestern zu Gast: Ulf Annel mit der Sprachspielerin Ingrid Annel an seiner Seite. So konnte ich aus erster Hand erfahren, wie die Kabarettgesellschaft auf die AfDermänner im Publikum reagiert. Man muss nämlich nicht glauben, dass Kabarettisten per se das völkische Dumpftun bekämpfen und lächerlich machen. Manch Kabarettist will dem Volk zu Munde reden, selbst wenn der Mund ein großes braunes Schiefmaul ist. Große braune Schiefmäuler möchten gern dem Kabarettisten Uwe Steimle eine Dresdner Ehrenmedaille anhängen und Steimle muss erst mal deutlich sagen, dass er doch LINKEN-Wähler sei …

Die siegreichste Hinrichtungsmaschine der Welt – Samstag 14. März 2020
Eine Anekdote für Donald Trump aus der schweizerischen Neutralitätspresse:
Im Mittleren Westen der USA gibt es den wunderbaren Staat Kansas, wo man vor hundert Jahren bereits patriotisch wählte und auch heute den größten Führer Amerikas, D. Trump, verehrt, bejubelt und 60-prozentig wählt.
Damals gab es dort das Camp Funston, wo tapfere Soldaten für ihren Einsatz in europäischen Schützengräben ausgebildet wurden. Der Koch A. Gitchell bekommt am Morgen des 4. März 1918 Kopf-, Halsweh und Fieber. Gleich ihm erkranken alsbald an die tausend Rekruten. 38 sterben.
Im März und April kommen Tausende US-Soldaten nach Frankreich, um die Überlegenheit der amerikanischen Nation im Weltkriege zu beweisen. Alsbald klagen die Deutschen über „Blitzkatarrh“ und die Briten über „flandrisches Fieber“.
Weil aber Krieg und Pressezensur herrschen, liest man erst von diesem Fieber, als in Spanien König Alfons XIII. und sein Hof erkranken. Fortan heißt es „Spanische Grippe“.
In einer zweiten Angriffswelle – wir sind am Ende eines Großen Krieges und die Berichterstatter haben viele kraftvolle Vokabeln gelernt – kommt die Grippe ab August 1918 wieder. Die Erkrankten und Toten sehen alsbald aus wie die amerikanische Siegesflagge. Rot und dunkelblau.
Häfen werden geschlossen; Quarantäne und Isolierstationen heißen die neuen Gegenmittel. Aus den USA kommt schließlich „social distancing“: Schließung von Theatern, Schulen, Märkten und Kirchen.
Insgesamt sollen mindestens 25 Millionen Tote das Resultat des US-amerikanischen Siegeszuges sein. Wobei die beste Nation der Welt Kollateralschäden erlitt: 675 000 Tote. Gemessen an der weltweiten Zahl aber lohnt sich dieser Einsatz der tapferen Stammesbrüder von Donald Trump.

Wortuelles Gedicht – Mittwoch, 15. April 2020
Bei einem Worte wundermild,
da war ich jüngst zu Gaste.
Die Stammschreibung, die war sein Schild;
es lebte von der Taste.

Versteckt war es im Qwertzuio,
das richt’ge musst‘ ich treffen;
schon stieg es aus dem Nirgendwo
und stand für mich am Heaven.

In einer Cloud voll Hintersinn,
gespickt mit Wissen, Ruhm und Ehr.
Allein, der Dieb vom Slüzzelin,
der setzt mir eine Schadsoftware.

Die Quellen und die Zitate – Sonntag, 30. August 2020
Für die geplante Veröffentlichung „Man findet hier viel Bekanntschaft mit der neuen Literatur – das literarische Rudolstadt“ sitze ich am Quellenverzeichnis. Da finden sich viele Bücher aus den Schillergoethezeiten, der Mundartepoche oder aus den Gründerjahren des Greifenverlages. Als Überblick aus der DDR gibt es eine Broschüre: „Schriftsteller des Bezirkes Gera“. Sie wurde 1985 herausgegeben vom Rat des Bezirkes Gera, Abteilung Kultur und vom Schriftstellerverband der DDR/Bezirksverband Gera. Mit der Redaktion der neunzigseitigen Broschüre hatte man Annerose Kirchner und Volker Hartdung beauftragt. Wie für alles offiziell Gedruckte steht im Impressum eine Genehmigungs-Nummer: V-5-1 414204 M 71/85.

Von jedem der 21 Verzeichneten (19 männl., 2 weibl.) gibt es ein Stück Biografie, Auszeichnungen (manchmal viele Zeilen, zum Beispiel „Aktivist der sozialistischen Arbeit“), gedruckte/aufgeführte Werke, eine Selbstauskunft zum Schreiben und ein Auszug aus einer veröffentlichten/geplanten Arbeit. Jeder und jede wird mit Foto gezeigt. Klaus Steinhaußen und Martin Viertel haben statt Fotos weiße Seiten, dabei gehörten sie zu den damals bekannteren Schriftstellern.
Vorn steht eine halbe Seite „Zum Geleit“ von Hans Kathe, dem Mitglied des Rates des Bezirkes für Kultur.
Gegen das Vergessen zitieren wir mal die Hälfte dieses Geleitwortes:
„Stets erwiesen sich die Schriftsteller als zuverlässige und treue Kampfgefährten der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei. Mit ihrem künstlerischen Wort und ihrem ganzen Engagement treten sie gemeinsam mit allen Werktätigen der Republik für die allseitige Stärkung des Sozialismus und die Verteidigung des Friedens ein. Die Freundschaft zur Sowjetunion, dem Garant für eine Durchsetzung der sozialistischen Ideale, ist ihnen eine Herzenssache.“

Die Korrektorin – Sonnabend, 26. September 2020
Mein Herausgeber und Verleger für „Das literarische Rudolstadt“ hat mir eine Lektorin besorgt. Für ein solches Manuskript, das nur so von Zitaten und Titeln wimmelt, ist eine Korrektorin unerlässlich. Zumal auch Personen- und Quellenverzeichnis dazugehören. Und wenn man da einen Fehler macht, zieht das juristische Folgen nach sich. So saßen wir am Donnerstag uns am Küchentisch gegenüber und das Manuskript ist nunmehr mit kursiver Schrift und Anmerkungen gespickt.

Hälfte des Herbstes – Donnerstag, 15. Oktober 2020 nach Hölderlin
Mit gelben Neidern hänget
Gefüllt mit vollen Hosen
Der Virus in den See.
Ihr Meckerköppe,
Trunken vom Beherbergungsverbot
Senkt ihr den Impfpock
Ins kranke Menschengeweb.

Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Die Temperatur steigt und steigt,
Den Optimismus her.
Und den Schatten der Erde?
Und die Siechenhäuser?
Schwatzhaft in Medien
Brüllen die Gegner.

Arbeitsbesuch – Samstag, 28. November 2020
Der Thüringer Schriftstellerverband hat einen Plan. Er will sein einstiges offleinenes Format „Traumberuf: Schriftsteller?“ neu aufleben lassen. Zu diesem Zweck kam gestern ein Schriftsteller/Verleger aus dem fernen Tabarz angereist, mit Aufnahmegeräten, Stativ, internetfähigem Handy und guter Laune sowie einer Mund-Nase-Bedeckung. Er kam die vier Treppen vom Niveau Schillerstraße aufs Niveau Biskupek hinaufgeastet.
Dieses Wort ist eines aus meiner sächsischen Vergangenheit.
In der normalen Vergangenheit waren nicht selten Aufnahmebrigaden vom Fernsehen zur Begrüßung eines neuen Buches da: Kameramann/-frau, Regisseur/Aufnahmeleiterin, Tonmensch, Lichtbereiterin.
Damals dauerten die Arbeiten einen halben Tag. Das Resultat waren drei oder gar sieben Sendeminuten. Denn das Kollektive dachte nach: „Ah, Sie haben einen Kaminofen! Leider ist es zu hell. Viel zu viel Licht! Wir verdunkeln etwas, der Ofen wird in Gang gebracht. Zündhölzer bitte hier platzieren. Sie setzen sich an diesen runden Tisch, den müssen wir herwuchten. Sie nehmen Ihr Buch zur Hand, wir beleuchten von hinten. Ihre Frau bringt Ihnen ein Glas Rotwein. Bitte von rechts. Das Mikrofon platzieren wir, verdeckt, hier. Sie grübeln bitte etwas, Hand an der Stirn …“
Ich bin damals auf derlei Vorschläge nie eingegangen. Und gestern fing mein Kollege gar nicht erst damit an. Vermutlich werden aber auch nur vier, fünf Minuten den Traumberuf Schriftsteller darstellen.
Ich schrieb übrigens zunächst in dieser Notiz „Trauberuf Schriftsteller“. So phantasieanregend hören sich Druck- und Faselfehler von Schriftstellern an.

 

Matthias Biskupek, Foto Harald Wenzel-Orf

Matthias Biskupek führt seit Frühling 2008 ein elektronisches Tagebuch. Zunächst im Auftrag der Kulturredaktion von „Thüringer Allgemeine“, seit nunmehr zehn Jahren im gänzlich eigenen Auftrag. Fast täglich findet man es unter www.matthias-biskupek.de. Seit Februar 2019 hat er mit der Krankheit Krebs zu tun.


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