Manuskriptwanderung 2017

Lehesten / Thüringer Schiefergebirge -

Es gehört zu den Tugenden der Thüringer Schriftsteller, einmal jährlich wandernd die Heimat zu erkunden. Diesmal sind wir im Schiefergebirge unterwegs. Wir logieren am Staatsbruch Lehesten und können vom Fenster aus direkt in den mit Wasser gefüllten Abgrund blicken. Die größten Schieferbrüche Europas sind heute Naturschutzgebiet und technisches Denkmal. Am ersten Abend fahren wir ins Städtele, um in der zur Bücherstube umgestalteten Schlecker-Filiale vor Einheimischen zu lesen. Es ist sehr lustig. Als Antje Babendererde an die Reihe kommt, schlägt die Stimmung um. Babendererdes Bücher, das weiß man, sind mit Vorsicht zu genießen. Bislang schrieb die Liebengrüner Autorin vor allem über Indianerreservate in Kanada und den USA, die sie regelmäßig besucht. Dann kam sie auf Isegrim. So heißt ihr Heimatroman, in dem ein Wolf den ehemaligen Truppenübungsplatz von Ohrdruf heimsucht und Schafen die Kehle durchbeißt. Nur Wochen nach der Veröffentlichung des Romans erschien der Wolf tatsächlich und hält uns bis heute in Atem. Antje Babendererde hat ihn quasi herbeigeschrieben.

Nun, in Lehesten, liest sie aus einem Jugendroman „Der Kuss des Raben“, der im Schiefergebirge spielt. Plötzlich kommen ihr Bedenken, weil die Gegend, die sie beschreibt, so grau und trist wirkt. Sie möchte niemanden im Publikum beleidigen. Aber wieso, rufen die Zuhörer verwundert, unsere Gegend ist doch grau und trist. Schiefergrau, um genau zu sein. Nur sind sich die Leute nicht sicher, ob es in Lehesten auch einen küssenden Raben gibt. Krähen ja, aber Raben? Zumindest wurde noch keiner gesichtet. Wie unterscheidet man eigentlich einen Kolkraben von einer Nebelkrähe?, frage ich meine Kollegin. Das sei sehr schwierig, erfahre ich. Der Rabe sei stattlicher, habe einen etwas größeren, leicht gebogenen Schnabel, und sein schwarzes Gefieder schimmere im Licht leicht grün-violett. Aber so etwas sieht man doch nicht aus der Ferne! – Gut, dann wolle sie mir mal ein Geheimnis verraten, sagt Antje, die wie immer akribisch recherchiert hat. Raben, behauptet sie, können sich während des Fluges auf den Rücken drehen. Ich bin baff. Auch als sie am nächsten Abend – da lesen wir aus unseren noch unfertigen Manuskripten – ihr neues Buch vorstellt, in dem es um Hexen geht. Hexen in Lehesten? Nicht doch, wiegelt Antje Babendererde ab. Dieser Roman spiele wieder in einem Indianer-Reservat in den USA. Trotzdem, ich bin gewarnt. Auf dem Weg zum Hotel kommt mir in der Dunkelheit ein altes Mütterchen entgegen. Ein lautes Krächzen. Ich blicke hoch, wo ein Schwarm schwarzer Vögel über uns kreist. Sie fliegen auf dem Bauch. Frank Quilitzsch / TLZ 18.09.2017 /