Nicht schon wieder Monster

Von Siegfried Nucke

Plötzlich hatte ich Zeit. Keine Termine, keine Verabredungen, keine Arbeitstreffen. Keine Fahrten nach Leipzig, Halle, Berlin. Stille. Auch das Telefon schwieg.
Das ist doch der ersehnte Idealzustand – das wunderbare Dahingleiten am Tag. Das nicht abrupt beendete Arbeiten, weil ein Irgendwer nur ganz schnell etwas klären möchte. Keine Mail, die erst ignoriert, dann aber doch geöffnet wird – es könnte ja eine Nachricht sein, die das Universum verändert. Oder einen Abgabe-Termin cancelt.
Stille. Zeit für einen zweiten Kaffee.
Zeit für den Text, der schon seit Wochen auf dem Schreibtisch hin und her geschoben wird.
Zeit für einen Spaziergang.

Eine gute Gelegenheit, die Gedanken zu sammeln, sich zu fokussieren, wie es so hübsch heißt. Neue Wege gehen, neue Wege entdecken. Das war doch ohnehin mal fällig. Im übertragenen Sinn, gut, das braucht Zeit, aber die hat man ja jetzt. Dann also der Spaziergang, raus aus dem Haus, rein in den Wald, hoch auf den Berg, hinunter ins idyllische Felsental. Was es nicht alles gibt! Felsformationen und wildromantische Täler, kleine Höhlen mit sagenhaften Geschichten. Das Grün der Buchen, Linden und Eichen, das am Morgen anders strahlt als am Abend. Verblüffend. Bachgeplätscher, das toppt jede Einstellung in jedem Heimatfilm. Und Namen tragen diese Ziele! Backofenloch. Strenge Wiese. Torstein. Aschenbergstein. Bärenbruchgraben. Pantoffelweg. Das Bier aus dem Rucksack geholt, Schinken und Brot. Vogelgezwitscher. Weiß Gott, was kann es Besseres geben.
Schreiben zum Beispiel. Da muss man erst mal wieder nach Hause spazieren. Dann setzt man sich. So viel Sauerstoff auf einmal muss der Körper erst verdauen. Das virtuelle Blatt auf dem PC hat dafür Verständnis. Es bleibt ein kurzes Weilchen sichtbar und verabschiedet sich etwas später dezent und länger ins Dunkle.

Nein, die Nachrichten auf allen Kanälen machen keine Freude. Sie machen Sorgen. Sie nennen Zahlen und Meinungen und Tendenzen und Blicke in die Zukunft – der nächsten Stunden und Tage. Die Bilder von Bergamo, von den langsam die Straße entlangfahrenden LKW, bleiben haften. Der Blick wandert durch die Jahrhunderte. Die Kapuzen und die Schnabelmasken. Die Statistiken von entvölkerten Landstrichen. Da hilft es nicht, wenn man hört, dass viele nur einen Husten haben sollen. Denn andere haben mehr als einen Husten.

Die Spaziergänge durch die Wälder und über die Wege werden länger. Ja, sie machen Vergnügen. Wandern verliert seinen Schrecken. Mitunter habe ich den Verdacht, es hat etwas, was nach mehr verlangt. Der Beginn einer Sucht? Immer früher aufstehen, immer weiter gehen? Oder doch nur eine altersmilde Variante des Vergessens, dass man früher das Fußläufige nicht so mochte? Nach einem dieser Naturgänge schrieb ich einen Satz aufs Papier: „Nicht schon wieder Monster, sagte die Feuerwanze.“ Muss ich mir Sorgen machen?

Die Wochen gehen ins Land. Die Telefonate werden häufiger. Es macht Spaß, miteinander zu schwatzen, auch wenn es um ganz Banales geht. Zum Beispiel: „Hast du deine Geschichte schon fertig geschrieben?“ Welche Geschichte?
„Na, die mit dem Käfer-Vieh.“
Welches Käfer-Vieh? Ach ja. Der Computer ist schuld. Er hat mich nicht erinnert, dass es langsam Zeit wird, die Geschichte zu schreiben. Der Abgabe-Termin rückt näher. Näher, aber noch nicht so nah, dass man die Intimsphäre verletzt sieht. Computerbildschirme sind da stringent im Halten des Abstandes.
Wie soll der Käfer heißen? Fritz, Fratz, Fridolin? Kevin, der verkannte. Torben, der verzogene. Karl, der Käfer. Den gibt es schon.

Man setzt sich wieder ins Café. Etwas weiter voneinander, aber die Rufweite ist ausreichend. Man bekommt verhüllt das Gewünschte serviert. Das ist nicht erschreckend, sondern wird erwartet. Nackte Nasen hingegen haben etwas Obszönes. Es gibt auch neue Begriffe, die direkt Spaß machen: „Kinn-Atmer“ ist so ein Wort, das mein Computer nicht kennt. Menschen, die den Mund-Nasen-Schutz nur übers Kinn ziehen. (Das für die Nachwelt, wenn alle wieder nackig im Gesicht sein sollten.) Dass die Leute höchstens zu zweit an Tischen sitzen, ist nicht dem Sommer dieses Jahres zuzuschreiben. Dass sich junge Menschen um den Hals fallen, als hätten sie sich vor der Marslandung ein letztes Mal gesehen, registriere ich unwillig. Auf den Domstufen in Erfurt sitzen die Leute und schlecken Eis. Jetzt weiß ich, wie der Käfer in der Geschichte heißen wird: Fernandino. Natürlich, wie sonst soll eine Feuerwanze auch heißen. Warum auch immer.

Der Sommer ist sehr groß. Er legt sparsam Schatten aus. Auch die Winde zeigen sich überwiegend wohlerzogen. Im Arbeitszimmer hat das permanente Weiß des Blattes auf dem Bildschirm etwas Penetrantes. Ich werde es allein lassen. Allerdings, das Laufen bergauf und bergab füllt nicht die Seiten einer Geschichte. Auch nicht die Kundgaben der Kollegen, die diese und jene Ideen haben. Oder Sorgen. Die Lesungen fallen aus, die Buchmessen werden verschoben, abgesagt oder ins Digitale verlagert. Das gelingt nicht immer gut. Ein Autor wird übers Netz von einem wohlbeleibten Jüngling zum Schreiben befragt. So weit nicht ungewöhnlich, allerdings gibt der Netz-Frager mehrfach unumwunden zu, dass er nicht mehr weiß, was er fragen soll. Was er gefragt hatte, vergaß er allerdings auch. Der Autor blieb ausgesprochen freundlich, höflich und kooperativ. Respekt! Das war wirklich eine Herausforderung, wie man heute gern ein Desaster umlügt.
Mein Arbeitsplatz wurde auf eine Wiese in einem Klosterpark bei Aachen verlegt. Ein Zauberpark. Seit Jahren. Mit Menschen, die zwei Sätze sagen und damit den Tag füllen können. Ich setze mich auf die Klosterwiese, auf eine Biertischbank, an einen blanken Biertisch und schreibe an drei Tagen die Geschichte der Feuerwanze Fernandino. Einfach so. So ist es immer. Hinsetzen und schreiben. Fertig.

Mindestens acht Lesungen fielen für mich in diesem Jahr 2020 weg. Die ins Auge gefassten und noch nicht fest vereinbarten, die zählen hier nicht. Ausgefallen sind die Buchmessen und Buchtage und Buchlesungen in Leipzig, Saarbrücken, Osnabrück, Erfurt, Aschaffenburg, Berlin, Solingen, Bad Nauheim und Wien. Nur einmal, im September 2020, konnten die Bücher meines kleinen Verlages Tasten & Typen an die frische Luft: in Dresden. Die Besucher trugen Masken und hielten Abstand, auch zu den Ständen der Verlage, wie wir feststellen mussten.

„Nicht schon wieder Monster, sagte die Feuerwanze.“ wird in einer Anthologie des Bödecker-Kreises Thüringen erscheinen. 2021, wenn alles hoffentlich wieder unbeschwerter geworden ist. Die Spaziergänge führen durch einen langen Herbst. Wenig Pilze, selbst die giftigen halten sich bedeckt. Ein neues Arbeitsfeld hat sich aufgetan: Kurze Videos werden gedreht und ins Netz gestellt; Autoren besucht, um Material dafür zu drehen. Schöne Gespräche. Aber: Zu viel Film für zu wenig Zeit. Eine Übung in Disziplin.
Keine schlechte Aufgabe in dieser Zeit. Auch die Erfahrung nicht, dass es schön ist, mit Freunden und Bekannten einfach so zusammenzuhocken und zu schwatzen. Der Himmel weit, die Wolken weiß und hoch droben – ob sich drunten Menschlein aneinander freuen, spielt für den Planeten keine Rolle. Er dreht sein Rad. Er lässt die Kugel rollen. Ist Sisyphos der wahre Weltgeist? Doch was wäre die Rolle der Menschen? Nicht schon wieder Monster.

 

Siegfried Nucke. Foto: Privat

Siegfried Nucke wurde 1955 in Nordhausen geboren. Der studierte Germanist und Historiker hat bis zum Ruhestand als Lehrer und zum Schluss als Leiter eines Gymnasiums gearbeitet. Er absolvierte in den 80ern ein Fernstudium am Leipziger Literaturinstitut, arbeitet heute als Verleger und Autor in Bad Tabarz.

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